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Medusas Tränen

"Alles in allem haben wir es mit einem höchst gefährlichen Objekt zu tun, das sich in dem Kirchturm verschanzt hat." Der Einsatzleiter zupfte sich unsicher an seinem traurig herabhängenden Schnurrbart.
"Irgend etwas über die Person bekannt?" Ein Kollege rechts von mir stellte die Frage mit sachlich-nüchternem Tonfall.
"Das eben ist das Problem." Der zerfurchte Gesichtsausdruck des referierenden Einsatzleiters wirkte noch immer unsicher. "Wir wissen etwas, aber das klingt... verrückt."

Was soll das, dachte ich bei mir, dafür sind wir doch da. Prügelnde Ehemänner und hysterische Hausfrauen können die Beamten vom Streifendienst doch alleine bewältigen. Erst wenn es um mehr geht, holt man uns vom Sonderkommando, um mit Bankräubern, Geiselnehmern oder - verrückten Amokläufern fertigzuwerden. Ich wußte, wo ich arbeitete, hatte mir meinen Job ausgesucht. Schon als kleines Mädchen hatte ich am liebsten Amazone gespielt. Action machte mir Spaß.

Noch immer zupfte unser betreten dastehender Chef sich verlegen an seinem Schnurrbart. Schließlich sagte er in die entstehende Pause: "Vielleicht sollte ich an unseren hinzugezogenen Experten übergeben. Professor von Bülow ist Altphilologe."
Ein leichtes Raunen entstand unter den Kollegen. Das war allerdings ungewöhnlich. Ich meine, wir hatten schon oft in dem muffigen Container der Einsatzleitung zusammengesessen, wenn - wie jetzt der Kirchplatz - weiträumig von Streifenwaqgen abgesperrt worden war, Scharfschützen auf den Dächern ringsum postiert waren, unser "Kunde", wie wir das unter uns nannten, in einem von grellem Scheinwerferlicht aus der Nacht gerissenen Gebäude in der Falle saß. So wie jetzt die Amokläuferin in dem Kirchturm um die Ecke.
Natürlich wurden oft Experten zu den Einsatzvorbereitungen zugezogen. Chemiker, Physiker, Ballistiker, Psychologen, Techniker. Aber ein Griechischprofessor war noch nie dabeigewesen.

Der Professor, ein hutzeliges Männchen mit wirr abstehendem weißen Haar, räusperte sich. "Ich versichere Ihnen, die ganze Angelegenheit ist für mich genauso ungewöhnlich wie für Sie", begann er mit einer seltsam sanft und verträumt klingenden Stimme. "Wenn wir zunächst die Videoaufzeichnung sehen könnten..."
Der Professor hatte mit einer seltsam abwesenden Bewegung seine Goldrandbrille abgenommen.
"Was Sie jetzt sehen werden, ist eine zufällige Videoaufzeichnung von der Kamera in der Sparkasse an der Ecke", führte er aus, während sich das Licht in dem Container, in dem wir saßen, schon leicht abdunkelte, "und Ihre Kollegen von der Spurensicherung haben uns versichert, daß nach ihrem Wissensstand das Band keine Manipulation erfahren hat oder gefälscht ist. Was Sie also gleich sehen werden, ist wahrscheinlich echt, auch wenn es unglaublich scheint. Wir haben dafür auch noch weitere Beweise."

Der Videobeamer zeichnete ein flimmerndes Schwarzweißbild auf die Leinwand am Ende des Containerwagens. Die groben Streifen der Aufnahme verrieten, daß man die ursprüngliche Aufnahme vergrößert hatte.
Das Bild zeigte durch die Scheibe der Sparkassenfiliale einen Teil des Gehweges mit Passanten. Eine Ecke der Straße war zu erkennen. Plötzlich kam Bewegung in die träge dahinlaufende Menge. Rennende Menschen. Ein älterer Mann hob schlagbereit seinen Regenschirm, offensichtlich von panischer Angst erfüllt. Und dann raste mit hoher Geschwindigkeit eine Alptraumgestalt durch das Bild.
Es herrschte Stille in Wagen der Einsatzleitung, als das Band zurückgespult wurde und in Zeitlupe noch einmal ablief. Da war sie wieder, eine Gestalt, mehr als menschengroß, mit gesenktem Kopf, deutlich weiblicher Brust und glänzenden Fledermausflügeln auf dem Rücken, ringelte sie sich auf einem Schlangenleib mit unbeschreiblicher Geschmeidigkeit dahin. Das Videoband spulte noch einmal zurück und zeigte dann ein Standbild.

"Was Sie hier sehen, ist uns aus der griechischen Heldendichtung bekannt." Der alte Professor räusperte sich leise. "Ich gebe zu, ich hatte auch nicht erwartet, einem meiner Studienobjekte einmal in natura gegenüberzustehen. Aber es ist wohl so, wenn die Videoaufzeichnung echt ist. Was sie hier sehen, ist eine Gorgone. Vielleicht kennen einige von ihnen die antike Dichtung 'Perseus und Andromeda', in der Perseus die Medusa erschlägt. Sie ist eine ebensolche Gorgone." Das hutzelige alte Männchen hatte sich zu dem Standbild auf der Leinwand umgedreht und dozierte, als befände es sich in einem Hörsaal der Universität.
"Apollodor beschreibt die Gorgonen als frauengestaltig, aber mit einem Drachenschwanz und goldenen Flügeln, was auf dem Bild recht deutlich zu sehen ist. Sie sollen auch Schlangen statt Haaren auf dem Kopf tragen und eiserne Hände haben, was vermutlich bedeutet, daß sie übermenschliche Stärke besitzen. Ihre gefährlichste Waffe aber ist etwas anderes."
Der weißhaarige Professor blickte uns an, als spräche er zu Erstsemesterstudenten.
"In der pathologischen Abteilung des Klinikums liegen fünfzehn Menschen, die eines sehr ungewöhnlichen Todes gestorben sind. Sie hat ihre Opfer versteinert."

Ungläubiges Schnaufen erklang rechts und links von mir. Ich kniff mich in den Arm, weil ich nicht recht wußte, wie lange dieser Traum noch gehen sollte. Wider Erwarten wachte ich nicht auf.
Die tiefe Stimme des Einsatzleiters übernahm jetzt wieder das Wort.
"Wir haben mehrere Zeugen für das Geschehen, nicht nur das Videoband. Einige stehen noch immer unter Schock." Das unsichere Zupfen am Schnurrbart wollte nicht enden. Er hat Angst, dachte ich, zum erstenmal hat er bei einem Einsatz Angst, unser Chef. Es war ein merkwürdiges Gefühl.

"Die Aussagen stimmen darin überein, daß sie zuerst in der Nähe des Bahnhofes aufgetaucht ist. Sie reagierte sehr aggressiv auf Menschenansammlungen. Schließlich hat sie sich mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Innenstadt bewegt und dabei alles umgebracht, was sich ihr in den Weg stellte. Jetzt sitzt sie schon seit Stunden im Kirchturm. Zwei Streifenbeamte, die von Passanten alarmiert wurden, sind nicht mehr aus dem Turm herausgekommen. Wir müssen davon ausgehen, daß auch sie..."
Seine Stimme stockte.
"Von ihrem Blick versteinert sind, richtig", übernahm die sanfte Stimme des Professors wieder das Wort."Sie versteinert ihre Opfer mit dem Blick. Hier, sehen Sie? Sie sieht dem Mann aus nächster Nähe direkt in die Augen. Wir haben ihn in genau dieser Pose gefunden, sein Körper bestand aus massivem Fels. Wenn Sie ihr begegnen, dürfen Sie also auf keinen Fall in ihr Gesicht sehen. Sonst geben Sie nur noch ein Standbild für den Stadtpark ab."
Das weißhaarige Männchen lächelte hintergründig.
"Ansonsten hat sie keine weitreichenden Waffen." Der Chef, unser Einsatzleiter, schien die Besprechung nun zum Abschluß bringen zu wollen. "Aber sie ist intelligent, wir sollten also mit List und Raffinesse rechnen, und sie nicht wie irgendein ausgebrochenes Zootier behandeln. Möglicherweise spricht sie. Kann irgendjemand von Ihnen Griechisch?"
Betretenes Gemurmel machte sich breit. Kollege Konstantin war im Urlaub.
"Wie auch immer. Der Innenminister wünscht jedenfalls kein Aufsehen. Die Medien sollen möglichst rausgehalten werden, damit es keine Panik gibt, besonders unter pseudoreligiösen Gruppen. Also, holen Sie sie schnell da raus. Und immer daran denken, nicht ins Gesicht sehen."

*

Die auf den Turm gerichteten Scheinwerferbatterien tauchten das Innere in ein seltsames Gemisch aus Zwielicht, grellen Lichtbahnen und dumpfen Schatten. Die Maschinenpistolen im Anschlag, stets vorsichtig sichernd, waren wir lautlos die düstere, gemauerte Wendeltreppe im Sockelgeschoß emporgestiegen. Jetzt öffnete sich über uns der Glockenstuhl. Ein unübersichtliches Gewirr von alten Holzbalken, Plattformen, Stiegen und Leitern, mit herabhängenden Seilen und zahllosen schwer einzusehenden Nischen. Weit oben waren die dunklen Silouetten der Bronzeglocken gegen die hohen spitzbogigen Fenster auszumachen. Es roch nach altem Holz und Staub. Beinahe bei jeder Drehung kitzelten mich Spinnweben im Gesicht.
Der Truppführer machte das Zeichen für Aufteilen und Sichern. Mucksmäuschenstill verteilten sich meine Kameraden in die verschiedenen Ecken des hohen Turmschachtes. Mir wies der Finger eine Holztreppe zur Rechten zu.
Ich nickte lautlos und drückte mich in den Einstieg, die Maschinenpistole dicht an mein klopfendes Herz gepreßt. Nichts war zu sehen in der staubigen Dämmerung.
Vorsichtig prüfte mein Fuß die erste Stufe. Eine alte Holztreppe zu ersteigen, ohne ein Knarren auszulösen, ist nicht einfach. Ich blickte rasch zurück, doch niemand war mehr zu sehen außer der undeutlichen Silouette von Rolf, der die Ausgangstreppe sicherte.
Stufe um Stufe tastete ich mich die halbdunkle Treppe hinauf, die Waffe fest mit beiden Händen umklammert. Ich hatte eine gehörige Portion Adrenalin in den Adern. Das war es, was ich an diesem Job mochte.
Ein leises Kratzen vor mir ließ mich augenblicklich erstarren, mitten im Schritt. Regungslos stand ich da und horchte in die Stille. Aber nichts war in dem Zwielicht erkennbar, das die Scheinwerfer von außen in den nächtlichen Kirchturm streuten, nur vor mir die Treppenstufen, rechts und links uraltes Gebälk und über mir eine hölzerne Plattform in der Ecke des Turmes. Der leichte Luftzug trug den Geruch von Spinnweben und Mäusedreck heran.
Mäusedreck?
Langsam suchte ich aus den Augenwinkeln die Umgebung ab, ohne meine Position zu ändern. Da - über mir, am Rand des Einstieges in die Plattform, bewegte sich ein kleiner Schatten. Eine Maus.
Ein wenig entspannte ich mich. Jetzt, da ich sie sah, hörte ich auch ihre feinen trippelnden Schritte. Sie hielt einen Augenblick inne, schnupperte in meine Richtung und verschwand dann im staubigen Dämmerlicht der Plattform. Ich wartete noch, bis das Kratzen ihrer kleinen Füße auf dem alten Holz verklungen war.

Langsam stieg ich weiter auf. Jetzt kam der schwierige Teil. Ich mußte mit dem Kopf durch die offene Luke über mir, ohne daß ich wußte, was da oben möglicherweise außer Mäusen noch alles lauerte. Vorsichtig spähte ich nach den Ritzen zwischen den Brettern. Schwaches Licht sickerte hindurch, nirgends war ein verdächtiger Schatten erkennbar, der auf eine kauernde Gestalt hingedeutet hätte.
Unendlich vorsichtig schob ich den Kopf durch die Öffnung, jederzeit bereit, mich die Treppe hinabfallen zu lassen. Mit den Augen in Dielenhöhe sicherte ich einmal rasch rundum. Nichts. Die Plattform lief auf allen Seiten leer in eine ungewisse Dunkelheit. Weit oben waren wieder die Glocken zu sehen, hinter denen schräge Lichtbahnen die Dämmerung zwischen den Balken des Glockenstuhles zerschnitten. Staub tanzte in der bleichen Helligkeit, die von draußen hereingeworfen wurde. Der Geruch nach Alter und Verfall wurde stärker.

Ich überlegte fieberhaft. Diese Plattform war der reinste Präsentierteller. Wer immer hier rundrum sitzen mochte, konnte mich prima beobachten, während ich heraufstieg. Hatte mich vermutlich schon gesehen.
Da das Erscheinen meines Kopfes aber noch keine Reaktion hervorgerufen hatte, beschloß ich, weiterzugehen. Ein leichtes Knarren am anderen Ende des Turmes verriet mir, daß auch die anderen sich möglichst lautlos fortzubewegen trachteten und dabei nicht immer erfolgreich waren. Ich überlegte mir, daß wir Stunden brauchen würden, bis wir das labyrinthartige Innere des Kirchturmes durchsucht hatten.
Da auf das Knarren keine weitere Reaktion erfolgte, setzte ich meinen Aufstieg zügig und leise fort. Flink verließ ich die ungeschützte Position in der Mitte der Bretterfläche und drückte mich in die Schatten der Außenmauer. Lautlos verharrte ich hier eine Weile und und lauschte in den ungewiß großen düsteren Raum um mich.

Obwohl die Nacht kühl und das Turminnere zugig war, ließ mich die Aufregung in meiner Lederjacke ganz schön schwitzen. Die Unterwäsche klebte mir am Leib. Weiter, dachte ich, als es eine Weile ruhig geblieben war.
Vorsichtig tastete ich mich in dem schwachen Licht an der rauhen Mauer entlang. Ich zog den Geruch nach Steinstaub und Feuchtigkeit ein. Schritt um Schritt schlich ich vorwärts.
Da - eine Bewegung links oben von mir. Blitzschnell warf ich mich flach gegen die steinerne Wand.
Aber ein Handzeichen der Gestalt ließ mich entspannen. Es war Manfred, der mich gesehen hatte. Ich signalisierte mit der Bewegung für "alles ruhig hier" zurück. Man muß ganz schön Nerven haben bei so einem Einsatz, um sich nicht gegenseitig abzuknallen. Wir sind nicht umsonst eine Eliteeinheit.

Da ich mich von oben abgesichert wußte, schlich ich etwas zügiger weiter, auf die Ecke des Turmes zu. Ein schmaler Durchgang war dort, durch den diffuses Licht auf die hölzerne Plattform sickerte. Das mußte einer der Außenerker sein.
Vorsichtig spähte ich so weit in Richtung des Einganges, wie ich konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Was jetzt kam, war ein Routinemanöver aus der Polizeischule. Ein geduckter rascher Sprung an der offenen Tür vorbei, um die andere Hälfte des Raumes einzusehen. Dann, die Waffe im Anschlag, der Sprung um die Ecke. Sichern in alle Richtungen.
Leer.

Erleichtert wandte ich mich wieder dem Durchgang zu. Der leichte Luftzug trug wieder den Geruch nach feuchtem Stein heran.
"Bleib stehen." Der Klang einer weiblichen Altstimme unmittelbat hinter mir ließ beinahe mein Herz aussetzen. Die Nische zwischen den Fenstern, schoß es mir durch den Kopf, ich bin wie eine Anfängerin in die Falle gegangen.
"Dreh Dich nicht um, sonst töte ich Dich", sagte die Stimme leiser. Ein schabendes Geräusch glitt in meinem Rücken über den Boden, der hier gemauert war. Der Geruch nach feuchtem Stein wurde stärker.
"Ich verstehe", antwortete ich langsam, "reden wir?"
Es war die Standardtaktik für solche Situationen. Ein Täter, der redet, schießt - noch - nicht. Und meine Stimme konnte den anderen Beamten Hinweise auf die Position und meine Lage geben.
"Mit mir wollen nicht viele reden", antwortete die Stimme.
"Wir dachten, Sie sprächen Griechisch", gab ich zurück.
Sie lachte trocken. "Ich dachte mir, daß man mich erkennt", sinnierte sie, "also sind noch nicht alle Legenden tot oder entstellt. Aber ich spreche nicht griechisch oder sonst irgend eine Sprache. Wesen wie ich werden von allen Menschen verstanden. Oder tauchen in euren Sagen normalerweise Dolmetscher auf?"
"Nicht, daß ich wüßte." Das Gespräch in Gang halten, dachte ich.
"Ihr Auftauchen kam etwas unerwartet...", setzte ich an, doch ein weiteres kurzes Lachen, das in einem Zischen endete, schnitt mir das Wort ab.
"Nicht nur für euch", sagte die Stimme hinter mir nachdenklich, "aber ich nehme an, sie konnten niemand anders als mich schicken."
"Sie sind geschickt worden", wiederholte ich langsam. Man durfte nicht direkt fragen. Manche Täter machte das nervös.
"Ja, ich nehme das an", antwortete sie, "denn es ist ziemlich deutlich. Die Göttlichen können sich nicht mehr selbst in dieser Welt manifestieren, da kaum noch jemand von euch an sie glaubt. Also mußten sie mich schicken, Medusa, die sterbliche der Gorgonen, von göttlichem Blute, aber so sterblich, wie ihr es seid. Und deshalb konnte ich noch einmal in eure Welt kommen, als Botschafterin in der Not."
"Es geht also um eine Botschaft", sinnierte ich. Ich mußte sie am Reden halten. Wenn man Tätern Gelegenheit gab, sich zu rechtfertigen, war das der erste Schritt, ihr Vertrauen zu erwerben. Allerdings erinnerte mich ein schleifendes Geräusch auf dem Boden hinter mir daran, daß das vielleicht nur für menschliche Täter galt.
"Natürlich. Ihr Menschen brecht den Pakt", stellte die dunkle Stimme hinter mir fest. Ich stand noch immer unbeweglich, die Hand an der Maschinenpistole.
"Ihr hättet es längst selbst sehen müssen", führte sie aus. Ich ließ sie reden.
"Die Aufgaben waren dreigeteilt, von alters her. Götter, Menschen und Tiere.
Die Aufgabe der Tiere war es, Vielfalt bereitzustellen, eine solche Menge von verschiedenen Lebensformen in so unterschiedlichen Ausprägungen, daß auch noch die schlimmste denkbare Katastrophe es nicht schaffen kann, alles Leben auszulöschen, daß immer noch eine Art so an die neuen Bedingungen angepaßt ist, daß sie sich weiterentwickeln kann.
Die Aufgabe der Götter war es, die allgemeinen Lebensbedingungen zu erhalten und schöpferisch neue zu erproben. Nicht unbedingt dem einzelnen Individuum ein besonders leichtes Leben zu schenken, aber langfristig das Leben aller Wesen zu erleichtern.
Und die Aufgabe der Menschen war es, all das sinnlich wahrzunehmen. Die Schönheit von all dem Leben zu erkennen, sie bewußt werden zu lassen und auf diese Weise zu bereichern. Sie sollten die Erkenntnis von der Schönheit der Welt mit allen Wesen teilen und dadurch zu einer höheren Form von Selbst-Erkenntnis des Ganzen zu verhelfen. Aber ihr habt den Pakt gebrochen."
Ich rührte mich noch immer nicht. Sie war jetzt im Redefluß, und das war gut so.
"Ihr habt selbst angefangen, die Welt nach euren kurzsichtigen Wünschen umzugestalten. Am Anfang waren es nur domestizierte Pflanzen und Tiere, und das mochte noch angehen. Aber ihr habt euch immer mehr Göttliches angemaßt, immer mehr Lebensbedingungen zu eurem eigenen Vorteil verändert, habt Maschinen gebaut, nach Erzen gegraben, Wälder verbrannt und immer größere Gebiete verwüstet. Und jetzt verändert ihr gar noch die Struktur der Atome und greift in den Bau der Gene ein. Das ist zuviel. Ihr müßt erkennen, daß ihr euch sebst damit überfordert, eure Seelen zerstört in eurem Hasten und Rennen nach immer mehr Veränderung, Umgestaltung und Zusammenraffen kurzfristiger persönlicher Vorteile. Schon als Kinder verliert ihr doch die Fähigkeit zu einfachem Staunen über die Wunder der Welt, könnt nicht mehr träumen, weil ihr euch mit den Aufgaben der Götter selbst überfordert, und ihr sterbt innerlich ab in eurer schönen selbstgemachten Welt, ohne es zu merken. Ist es nicht so?"

Ich antwortete nicht sofort. Während der rationale Teil meines Verstandes nach einer möglichst geschickten Erwiderung in meiner prekären Lage suchte, berührten ihre Worte etwas sehr tief in meinem Inneren.
"Sie wissen, daß es so ist", setzt die Stimme in der Halbdämmerung des kleinen Turmerkers hinter mit fort. "In dem Glauben, ihr könntet alles selbst tun, habt ihr den Göttern mehr und mehr ihres Anteils aus der Hand genommen und sie schließlich verdrängt. Und ihr beklagt euch noch, daß eure kleinlichen Gebete nicht mehr erhört werden. Wie denn auch, wenn ihr nur noch an euch selbst glaubt? Und genau das wird euch das Ende bringen. Die Götter sind, enterbt, in die Inneren Ebenen vertrieben, und ihr seid zu überschauendem Gestalten nicht fähig. Und Gaia wird nicht zulassen, daß ihr das Leben als Ganzes gefährdet."
"Das klingt alles sehr logisch...", antwortete ich. Die Stimme erwiderte nichts. Nur ein leises Zischen erklang aus ihrer Richtung.
"Ich möchte etwas vorschlagen", sagte ich leise, "vieles dieser Gedanken ist neu für mich. Und ich habe so etwas wie Sie noch nie gesehen. Es würde mir leichter fallen, Ihnen zuzuhören, wenn ich Sie ansehen dürfte."
"Mein Blick versteinert. Das wissen Sie", war ihre knappe Antwort, "und es ist ein wenig schwierig, sich mit jemand zu unterhalten, der zu Stein wird, wenn man ihm in die Augen sieht. - Hey!"

Ihre dunkle Stimme gewann sehr plötzlich an Schärfe. "Einer ihrer Freunde zielt mit einer Waffe auf mich. Ich sehe die Wärme. Sagen Sie ihm, daß er das lassen soll."
Ich nickte. "Manfred oder Rolf oder wer das ist", rief ich ins Innere des des dunklen Turmes hinein, "sie kann Infrarot sehen. Nicht auf sie anlegen. Sie will reden."
"Besser", sagte sie knapp.
"Ist es weg?" Meine Augen konnten in der Dunkelheit keine Veränderung wahrnehmen.
"Ja." Nach einer Pause fragte sie leiser: "Sind Sie die Anführerin der Männer?" "Nein", erwiderte ich.
"Das ist schade. Aber immerhin hat der eine auf sie gehört."

Meine Gedanken beschäftigten sich nebenbei wie selbstverständlich mit dem, was nun draußen vor sich gehen mußte, jetzt, da der Einsatzleiter wußte, wo sie und ich uns befanden. Man würde eine weitere Einsatzgruppe auf dem Dach der Kirche absetzen und die Scharfschützen umgruppieren. Und ich mußte weiter beruhigend auf sie einwirken. Fast tat sie mir leid in so aussichtsloser Lage. Nein, nicht fast. Sie tat mir leid.

"Also, darf ich mich da an die Seite setzen?", nahm ich das Gespräch wieder auf, "ich würde wirklich gerne wissen, wie Sie aussehen. Ich lege auch die Waffe ab, ist das ok?"
Merkwürdig berührt stellte ich fest, daß es mich wirklich interessierte, es war nicht nur Taktiererei, der Eitelkeit des Täters zu schmeicheln.
"Die Waffe ist egal", stellte die Stimme fest, "wenn Sie auf mich zielen, versteinern Sie, ehe Sie abdrücken können. Aber wenn wir uns gegenübersitzen, könnten sich unsere Blicke zufällig treffen, und dann versteinern Sie auch. Ich kann das nicht kontrollieren, wissen Sie."
"Ich kann mich seitlich setzen. Ich habe einen Schminkspiegel dabei. Wäre das möglich?"
Statt einer Antwort war nur ein verächtliches Zischen zu hören. Nach einer Pause sagte sie schließlich: "Na gut."
Langsam bewegte ich mich an die rechte Seite des kleinen Erkerraumes, wobei ich die Waffe betont gleichgültig an der Hüfte baumeln ließ. Als ich mich langsam und mit gut sichtbaren Händen auf dem muffigen Bretterstapel an der Seitenwand niederließ, sah ich aus dem Augenwinkel eine schemenhafte Bewegung zwischen den beiden mit gotischem Maßwerk ausgefüllten Fenstern des Turmerkers.

"Ich hole jetzt den Spiegel aus der Tasche." Es kam in solchen Situationen immer darauf an, nichts Unerwartetes zu tun. So etwas konnte einen Angriff provozieren.
"Sie machen sich viele Gedanken", sagte ich wie beiläufig, als ich den Spiegel langsam in die Hand nahm. Und dann sah ich sie.
Sie sah in dem Halbdunkel aus, als sei sie vom Baumeister der Kirche an diesem Platz vergessen worden. Lediglich leichte Bewegungen ihres Körpers verrieten, daß sie wirklich lebendig war.
Ihr langer schuppiger schwärzlicher Schwanz ringelte sich durch den Raum fast bis vor meine Füße. Ich erkannte, daß die Schuppen auf dem Steinboden das schabende Geräusch erzeugt hatten, das ich gehört hatte. An den Hüften ging der Schuppenschwanz beinahe ansatzlos in einen schlanken weißhäutigen Frauenkörper über. Die gesamte Haut glänzte feucht. Ich stellte mit vor, wie kühl ihre Berührung sein müsse, bevor mein Blick weiterwanderte.
Die Schultern wurden überragt von jetzt eng zusammengepreßten Schwingen, die oben in Klauen endeten und in dem schwachen Licht dunkel messingfarben schimmerten. Zaghaft richtete ich den Spiegel auf ihren Kopf. Ein schmales, fast zartes Gesicht mit traurig zur Seite blickenden dunklen Augen, um das sich wirklich Schlangen ringelten. Ich erkannte bräunliche und grünliche Schuppen. Einige der Köpfe züngelten in meine Richtung.
"Beeindruckend", murmelte ich.
"Die meisten Menschen haben Angst", gab sie zurück.
"Sie haben einige getötet", gab ich zu bedenken.
"Ja, weil sie mich angegriffen haben. Die Veränderung kam so plötzlich. Wenn ich gewußt hätte, was passiert, wäre ich in einen einsamen Wald gefahren. Aber so... ich habe über dreißig Jahre in menschlicher Gestalt gelebt, wie eine Schmetterlingsraupe, ohne zu wissen, daß meine Seele die von Medusa ist. Dann bin ich mitten auf der Straße zusammengebrochen, wand mich in der Agonie der Verwandlung in meine wahre Gestalt, während um mich die Gaffer standen und glotzten. Und als sie sahen, was aus mir wird, begannen einige mit Steinen zu werfen und mit ihren Stöcken auf mich einzudreschen. Ich habe mich gewehrt und bin geflohen. Wer sich mir in den Weg stellte, den habe ich versteinert. Ich war in Panik. Es war Notwehr", sagte sie fast beschwörend. Ich las Verzweiflung in ihren Zügen in meinem Schminkspiegel.
"Was sollte ich denn tun, außer in einen Tempel fliehen? Auch wenn seine Magie nur noch schwach ist, ich habe ihn gleich erkannt, diesen Zeustempel hier. Ja, ich weiß, daß ihr ihn anders nennt, aber ich bin gewöhnt an den Namen Zeus. Die Symbole sind anders, aber er ist es. Er ist oft auf die Erde gekommen, damals, um kleine Halbgötter zu zeugen." Sie lächelte traurig-verträumt.

"Wie war das, damals?" Ich versuchte, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. Es ist nie gut, mit Tätern über die Schuldfrage zu diskutieren.
"Damals, ganz am Anfang..." Der schlangengekrönte Kopf der Gorgone hob sich. Der Blick ihrer Augen, die ich nur als Spiegelbild sah, wurde noch verträumter.
"Wissen Sie, ich bin die jüngste der Gorgonenschwestern. Stheno und Euryale waren göttliche Wesen, nicht sterblich wie ich. Wir lebten zu der Zeit an der Küste Kleinasiens. Meine Schwestern hatten dort Stämme, die sie als Erscheinungsformen der Erdmutter verehrten. Mich verehrte niemand, obwohl ich genau wie die anderen aussehe. Euryale hat deshalb immer auf mich herabgesehen, aber meine ältere Schwester kümmerte sich viel um mich. Sie hat mir oft von den Opfergaben ihrer Verehrer etwas mitgebracht."
Die Züge des schmalen weißen Gesichtes an dem fremdartigen Körper entspannten sich zusehends. Ihre volle Stimme hatte einen seltsam sanften Klang angenommen. Ich registrierte es nicht nur mit der beruflichen Befriedigung der Polizistin.
"Sie selbst brauchte die Opfergaben ja nicht wirklich", erklärte sie weiter, "sie ist ja göttlich, und göttliche Wesen existieren in astraler Gestalt. Aber ich habe eine sterbliche Seele, und die ist immer an einen physischen Körper gebunden. So wie bei euch Menschen." Ihre schlanke weiße Hand machte eine unwillkürliche Geste in meine Richtung. Eine kleine Pause entstand, ehe sie die Handfläche auf die Brust legte und weitersprach.
"Ich muß Luft oder Wasser atmen, ich muß essen, ich kann verletzt werden. Ich empfinde Schmerzen, Liebe, Trauer. Nicht wie meine Schwestern."
Für einen Augenblick hatte sie, ganz in sich selbst versunken, die Augen geschlossen. Ich sah es im Spiegel und rührte mich nicht.
"Und das bedeutete, daß ich von irgend etwas leben mußte. Ich habe blinde Fische gejagt, in einem kleinen Höhlensee. Die versteinern nicht." Regungslos kauerte sie zwischen den von außen angestrahlten Spitzbogenfenstern. Nur die schuppige Schwanzspitze in meiner Nähe zuckte ganz leicht.

"Dann kam Perseus. Es war ein Feiertag bei den Stämmen, und meine Schwestern waren bei religiösen Zeremonien zu ihren Ehren. Ich war zu der Zeit hochschwanger, denn ich hatte eine Liebelei mit dem Meeresgott. Nach der Jagd in meinem Höhlensee war ich erschöpft am Ufer eingeschlafen. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich gerade noch genug Zeit, das dümmliche Grinsen dieses Bauernlümmels in seinem spiegelnden Metallschild zu sehen, als er mir die Kehle durchschnitt. Oh, nicht daß er der erste gewesen wäre, der es versucht hat. Vor meiner Höhle standen eine ganze Reihe Heldenskulpturen griechischer und mesopotamischer Herkunft. Irgend ein armer Tropf mußte schließlich wohl einmal Glück haben."
Ich schwieg betroffen. Mit plötzlicher Klarheit sah ich die groteske Ähnlichkeit der Situation, wie ich hier saß, gewissermaßen eine moderne Ausgabe von Perseus, mit dem Spiegel in der Hand und der Waffe an der Seite, in einem düsteren Raum. Die Kluft zwischen den Jahrtausenden schien für einen winzigen magischen Moment verschwunden zu sein.

Ich schnappte hörbar nach Luft. "Tut mir leid, das mit dem Spiegel", sagte ich mit belegter Stimme. Ein noch kühler Teil meines Verstandes sagte mir, daß mich diese Unachtsamkeit den Kopf hätte kosten können.
"Ach, ist schon gut", antwortete der geflügelte Schemen zwischen den Fenstern. Aus den Augenwinkeln konnte ich sie kaum erkennen.
"Wissen Sie, jemand anderen hätte ich dafür vermutlich an der Wand zermalmt. Aber Sie reden mit mir. Irgendwie mag ich Sie ein bißchen."

Eine Sympathieerklärung von einem mythologischen Ungeheuer, dachte ich. Bekommt auch nicht jeder.
"Wissen Sie, Perseus hat überhaupt nicht versucht, mit mir zu reden. Ich war ihm vollkommen egal. Er war einfach nur ein pubertierender Bengel, der nach einer tollen Trophäe suchte, um seinen künftigen Schwiegervater zu beeindrucken."
"Wie ging es weiter", fragte ich vorsichtig. Ich erkannte ihre Handbewegungen nur noch undeutlich, weil ich den Spiegel nicht mehr benutzen mochte. Dafür nahmen meine Sinne wieder den feuchten Geruch und das Schaben der Schuppen auf dem Steinboden wahr.
"Meine Seele kam schon einmal zurück", sagte die Altstimme, zu der ich nicht direkt aufsehen konnte, "in Frankreich, so zur Zeit des Frühmittelalters. Zu der Zeit wußte ich von Anfang an, wer ich war, hatte aber zuerst auch eine rein menschliche Gestalt. Damals zeichnete sich schon ab, daß die Menschen auf dem falschen Weg sind. Ich habe einen Adligen geheiratet, einen einflußreichen Ritter, weil ich dachte, auf diese Weise etwas verändern zu können. Das war ein Fehlschluß. Auf seine Weise liebte er mich wohl, aber als seine Frau war ich sein Besitz und hatte nichts zu melden. Er war nicht böse, nur einfach ein Kind seiner Zeit. Ich wollte ihn nicht umbringen, darum habe ich eine Geschichte von einem Fluch und einem Schwur erfunden, der uns trennen mußte, als ich spürte, daß sich die Metamorphose nicht mehr länger aufhalten ließ, und mich in melodramatischer Pose aus dem Fenster gestürzt. Beinahe zu spät, denn von Ferne haben sie mich noch davonfliegen sehen. In der Legende wurde mein Name zu 'Melusina' verdreht."

"Wohin sind Sie gegangen?" Längst hatte ich vergessen, wo ich mich befand. Zeit spielte keine Rolle mehr angesichts der Geschichte, die hier erzählt wurde. Die Maschinenpistole an meiner Seite war ein Fremdkörper aus einer anderen Zeit geworden in diesem gotischen Turmerker.
"Ich wollte in die Wildnis, weit im Osten. Europa war zu der Zeit schon weitgehend besiedelt. Aber ich hatte Pech, denn ich fand nicht genügend zu essen, keine Höhlenfische oder andere blinde Tiere." Sie seufzte leise. "Ich kann nun mal keine versteinerten Kaninchen essen. Also fiel ich vor Entkräftung einfach vom Himmel, nachdem ich drei Tage lang geflogen war, irgendwo über den böhmischen Wäldern. Ich war halbverhungert, ehe mich irgendein armer Tor mit einer rostigen Lanze, der sich für einen Ritter hielt, von hinten aufspießte. Wahrscheinlich ist da eine tolle Drachentöterlegende draus geworden."

Ihre Bitterkeit schnitt mir ins Herz. Mit schroffer Plötzlichkeit nahm ich die Gegenwart wahr, sah sie undeutlich dasitzen, ein empfindendes Wesen, uralt, schön, aber nicht mächtig genug, um vor Hetze und Mißhandlung sicher zu sein. Das fahle Licht der Scheinwerferbatterien vor den steinernen Fenstern erinnerte mich nur zu deutlich daran, wie ausweglos sie in der Falle saß. Nicht einmal, falls sie mich als Geisel nahm, hatte sie die Spur einer Chance. Wir hatten die besten Profischarfschützen für solche Situationen,für den Moment, wenn sie mit mir vor die Tür trat. "Finaler Rettungsschuß" nannte sich das.
Instinktiv deutete Melusina mein Schweigen richtig. "Sie werden mich nicht gehen lassen, nicht?", fragte sie mit fast kindlichem Tonfall.
"Wollen Sie das?" Ich versuchte, die Beantwortung der Frage aufzuschieben, wollte ihr nicht noch mehr wehtun.
"Ich wäre gern irgendwo in der Natur, an einem einsamen Ort. Vielleicht in einer Höhle mit einem See in einem der Nationalparks, wo keine Menschen hinkommen." Sie machte eine lange Pause, ehe sie bemerkte: "Man wird auf mich schießen, wenn ich versuche zu fliehen, nicht?"
"Man hält Sie für gefährlich und unberechenbar", antwortete ich mit einem Kloß im Hals. Es fiel mir ganz und gar nicht leicht, sie zum Aufgeben zu bewegen.
"Glauben Sie das auch?" Die dunkle Stimme zwischen den Fenstern bebte beinahe.
"Sie haben mir doch nichts getan." Es war eine nüchterne Feststellung. "Vielleicht könnten Sie mit den anderen Menschen reden."
"Das könnte ich. Wir könnten friedlich zusammen rausgehen. Dann wird niemand auf Sie schießen."
"Würden Sie das für mich tun?"
"Wenn Sie mir ihr Wort geben, niemanden zu versteinern..."
"Das will ich doch gar nicht. Die sollen mich nur in Frieden lassen." Der Schuppenschwanz ringelte sich nervös über den Boden. Sie rang sich zu einer Entscheidung durch, machte eine fahrige Geste mit dem hellen Arm, ehe sie leise fortfuhr: "Wenn sie wollen, können Sie mir die Augen verbinden."

Sie kapituliert, dachte ich. Es tat mir fast weh. Ich fühlte mich nicht mehr als Polizistin, die hier einem gefährlichen Tier oder einem gesichtslosen Täter gegenübersaß. Auch wenn Medusa aussah wie etwas, dem man nur in Alpträumen begegnet, für mich war sie in diesem Moment nicht mehr als ein leidendes Geschöpf, das sich in sein Schicksal ergab.
Leise antwortete ich: "Wenn Sie mir so weit vertrauen... man würde das allerdings als Zeichen Ihres guten Willens ansehen."
"Ich tue es. Ich habe es satt, wie ein Tier gejagt zu werden."
Ihr undeutlicher Umriß begann sich in dem düsteren Raum zu bewegen. "Haben sie etwas dabei?"
"Vielleicht mein Halstuch", schlug ich vor.
"Gut. Ich schließe jetzt die Augen." Die Gorgonengestalt hatte sich in die Mitte des kleinen Erkers vorgeschoben und wartete. Mit klopfendem Herzen wandte ich mich ihr zu.
Sie lächelte mich mit geschlossenen Lidern an, als ich ihr das Tuch hinaufreichte. Eine ihrer noch in dem schwachen Licht metallisch glitzernden Schwingen öffnete sich leicht. Die Schlangen um ihren Kopf beobachteten mich züngelnd. Dann strich sie mir mit ihren schlanken weißen Fingern leicht über die Wange, eine unerwartete Geste der Zuneigung. Die Berührung ihrer feuchten Haut war überraschend weich und warm.
Schließlich sagte ich: "Ich sage den anderen jetzt Bescheid, daß wir rauskommen."
Langsam wandte ich mich ab von der großen Gestalt, der kleinen Tür des Turmerkers zu und rief ins dunkle Innere des Kirchturmes: "Manfred? Ich weiß, daß ihr noch daseid. Also hört zu, ich glaube, ich habe eine Lösung..."

*

Und jetzt sitze ich hier und soll meinen Bericht schreiben. Ich bin beurlaubt, die nervliche Anspannung war zuviel, das ist doch ganz klar nach so einem Einsatz, sagen sie. Die Klinik ist sehr ruhig und die Ärzte sehr freundlich zu mir. Nein, sagen sie, ich sei hier nicht in einer geschlossenen Abteilung. Wenn ich wolle, könne ich jederzeit nach Hause gehen. Ich weiß nicht, ob ich ihnen glauben soll.
Alles ist so schnell gegangen. Als ich hinter Medusa aus der kleinen Tür im Turm auf den hellerleuchteten gefflasterten Kirchplatz hinaustrat, packte mich jemand am Arm und riß mich brutal zur Seite, während schon von allen Seiten die Schüsse krachten. Ich sah sie dastehen, kann das Bild nicht mehr vergessen, regungslos mit leicht ausgebreiteten Armen, die Augen verbunden, während die Kugeln ihre weiße Haut zerfetzten. Es war wie eine Hinrichtung.

Später dann, im Container der Einsatzleitung, die erste Vernehmung, ich habe alles erzählt, was sie mir gesagt hat, auch die Sache mit dem Pakt, den die Menschen nicht mehr einhalten. Ich glaube, niemand hat mir zugehört.
Stattdessen bin ich hier, beurlaubt, in einer psychiatrischen Klinik. Sie haben etwas vom Schock erzählt und vom Solidarisierungseffekt bei Geiselnahmen. Dabei hat Medusa mich nie als ihre Geisel behandelt. Aber man hört mir einfach nicht zu.

In den Gesprächen mit den Psychologen geht es immer um die Ereignisse in dem kleinen Turmzimmer. "Es war dunkel", sagen sie dann, "und Sie waren innerlich überspannt. Vielleicht haben Ihre Sinne ein wenig übertrieben. Die Täterin war sicher eine große und kräftige Frau. Aber überlegen Sie einmal, wie genau Sie sie in dem unsicheren Lichtverhältnissen gesehen haben."
Und das ist nicht alles. Die meisten meiner Kollegen sind in andere Abteilungen versetzt worden. Der ganze Einsatz wurde nur kurz in den Abendnachrichten erwähnt. "Geiselnahme gewaltsam von Polizeieinsatzkommando beendet", hieß es da. Kein Wort von Medusa, von versteinerten Menschen, von dem, was ich gesehen und gehört habe. Sie vertuschen alles. Es muß auch unglaublich praktisch für sie sein, daß Medusas Körper innerhalb von Stunden zerfallen ist. Ich habe die Jungs von der Spurensicherung darüber reden hören, als ich vom Kirchplatz weggebracht wurde. Die Reste, Knochensplitter, Schuppen, Goldstaub, ein Stück Schlangenhaut, werden wohl in ihren unergründlichen Kellern verschwunden sein.

Es ist egal, was sie mir erzählen. Die Psychologen sind sehr geschickt, sie können einen wirklich zweifeln lassen an dem, was man selbst erlebt hat. Aber ich werde nie die Berührung vergessen, den Augenblick, als ich ihr mit dem Tuch gegenüberstand und sie meine Wange streichelte, der kurze Augenblick, als sie, eine uralte Tochter der Götter, mir, der Menschenfrau, ganz vertraute.

Es ist jetzt Sommer, und ich sitze oft abends im Garten der Klinik. Jürgen, einer der Ärzte, ist oft bei mir, er hat mir die Sternbilder gezeigt, auch den Perseus, der der Sage nach von den Göttern an den Himmel versetzt wurde. An der Stelle, wo er angeblich noch immer Medusas abgeschlagenen Kopf in der Hand trägt, steht ein rötlicher Stern. Er heißt Algol. Ras Al-Ghul, so haben ihn die Araber genannt, und das heißt "Das Haupt der Teufelin". Arme Medusa. Sie werden Dich nie verstehen.
Ich sitze im Garten und blicke zu den Sternen im dunkelblauen Himmel auf. Die Linden blühen, sie duften sehr stark in der warmen Nachtluft.
Perseus' Sterne funkeln. Wir beide haben sie auf dem Gewissen, denke ich. Ich mehr als Du. Denn mir hat sie vertraut.

Lange verweilt mein Blick bei dem rötlichen Algol. Und als die ersten Sternschnuppen fallen, ist es, als ob Medusa Tränen weint.

© 2000 Diane Neisius. Erstveröffentlichung im Literaturkreis Cafe Kreuzberg, Göttingen 2000.



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